Die Fragilität unserer Existenz

Vom Reiz der Gerichtsreportage

Bei einer Lesung aus meinen Gerichtsberichten in einer kleinenren Stadt saß in der ersten Reihe ein älteres Ehepaar. Während sie hochkonzentriert und sichtlich bewegt zuhörte, blieb sein Gesicht verschlossen, war voller Abwehr. Vielleicht hatte seine Frau ihn mit ehetypischen, so spezifischen und sich doch so ähnelnden ähnelnden Druckmaßnahmen zu der Veranstaltung überredet. Ich las die Geschichte eines Mannes, der seinen Vater erschlagen hatte. Schilderte das Verfahren, das, was die Beweisaufnahme vor Gericht erbracht hatte, das Auftreten des Mannes und das der vielen Zeugen. Nach dem anfänglichen Entsetzen wächst bei den Lesern oft eine Art Verständnis und Mitgefühl, wenn man den Leuten die ganze Geschichte erzählt. 

Dieser Ehemann jedoch rief nach der Lesung aus: „Das gibt es bei uns nicht!“ Es hielt ihn kaum länger auf dem Stuhl. Seine Frau warf ihm einen langen Blick zu. Weil sie anschließend ein Buch signiert haben wollte, musste er wohl oder übel noch etwas vor Ort verweilen, was ihn sichtbar Überwindung kostete. Eine andere Dame flüsterte mir zu, während ich schrieb und gleichzeitig das Ehepaar beobachtete, „Wegen des Herrn da vorhin: Im Nachbarort hat die Polizei vor zwei Wochen zwei Babyleichen in einer Tiefkühltruhe entdeckt. So viel zu ‚das gibt es bei uns nicht‘.“ Ich lächelte ihr freundlich zu und antwortete, man muss nur sehen wollen. Sie nickte.

Was einen Menschen ausmacht, wird sichtbar, wenn er in Extremsituationen kommt. „Jeder Mensch ist ein Abgrund: es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“, heißt es in Büchners „Woyzeck“, und das ist natürlich wahr. Gut und schlecht stecken in jedem von uns. In die Abgründe zu schauen, hinter die Fassade zu blicken, fasziniert uns, weil wir so verstehen, was uns ausmacht. 

Gerichtsreportagen wurden immer gerne gelesen, weil wir verstehen wollen, wie es dazu kommen kann, dass jemand die zivilisatorische Grenze überschreitet. Weil wir, wenn wir wir ehrlich zu uns sind, wissen, dass der Firnis oft dünn ist. Jeder kennt Momente des Zorns, unbändiger Wut, hat Augenblicke erlebt, in denen uns eine Banalität überkochen lässt, – der sprichwörtliche letzte Tropfen – und der Verstand aussetzt. Wir wissen um die Macht der Gier nach Geld und Liebe, nach Berührung und Anerkennung. Romantisch weichgezeichnet, die Sehnsucht. Wir sehnen uns nach Harmonie, nach einem Platz, an dem wir zu Hause sind, kommen mitunter mit schwerem Gepäck dort an und laden ihn mit all unseren Erwartungen auf. Die meisten Menschen sind zu allerlei Kompromissen bereit, nur um nicht allein zu sein – oder finanziell abgesichert. Was passiert, wenn unsere Hoffnungen, unser Vertrauen missbraucht wird? Die Liebe nicht erwidert wird oder zumindest nicht so, wie wir es uns wünschen? Unser Rückzugsort sich in einen Hochspannungssektor verwandelt? 

Meistens geht die Sache ja irgendwie gut – zumindest in strafrechtlicher Hinsicht. Gerade wenn wir beobachten, wie das Minenfeld von Ehe und Familie, das Heim, sich in ein tatsächliches Schlachtfeld verwandelt, erfasst uns ein Schaudern. Wir lesen über Beziehungstaten wie von Stellvertreterkriegen, sind Davongekommene. Eine Art Katharsis, die es uns natürlich auch ermöglicht, nicht an die Leichen im eigenen Keller zu denken. Wie der ältere Herr bei meiner Lesung können wir uns kopfschüttelnd abwenden und uns als die besseren Menschen fühlen: Das würde ich nie tun! 

Die Gerichtsreportage erzählt von der Fragilität unserer Existenz, von seiner Tragik und Komik. Sie berührt uns anders als ein Krimi, weil die Geschichten wahr sind, sich nebenan abspielen. Jeder kann Opfer werden – oder Täter. Oft hat man einfach nur Glück. Der Situationen, in denen wir Schuld auf uns laden, sind unzählige. Der Schritt auf die Anklagebank ist oft nur ein kleiner. 

„Wann Krieg beginnt, das kann man wissen. Aber wann beginnt der Vorkrieg“, schreibt Christa Wolf in ihrer Erzählung „Kassandra“.

Im Gerichtsprozess wird die Kette der Ereignisse, der Vorkrieg, für uns aufgerollt, Stein um Stein umgedreht, um zu verstehen, wie es zu einer Tat kam. Fremde Leben werden vor uns ausgebreitet, ein Blick in Parallelwelten. Vieles verstehen wir nicht, uns fehlt die Phantasie – oder wir halten sie in Schach. Doch bitten wir an Jom Kippur, dem Tag der Sühne, nicht nur um Vergebung für all die schlechte Dinge, die wir taten, sondern auch für die, die wir nur dachten. Versuchen, ein wenig die Rumpelkammer aufzuräumen – um anschließend im neuen Jahr genauso weiterzumachen. 

„Vorgestalten“, nennen forensische Psychiater die finsteren Gedanken, wenn gekränkte Eitelkeit, fortlaufende Verletzungen, wie auch immer geartet, Rache wachsen lassen. Zu Straftaten führt nicht nur der Tunnelblick des Täters mit seiner individuellen Beschaffenheit und seiner Biografie, sein ganzes Umfeld spielt eine Rolle. Deshalb werden in der Beweisaufnahme vor Gericht all diese Dinge so genau wie möglich betrachtet. Es geht nicht um „Freifahrtscheine“, wie oft verächtlich über die Justiz gesagt und gedacht wird. Die Schuld eines Menschen wiegt individuell. Das versteht ja auch jeder. Zu stehlen aus Not ist etwas anderes, als zu stehlen aus Geiz. Ein Aufwachsen mit Misshandlungen anders zu bewerten, als ein wohlbehütetes. Die Hintergründe zu erfahren, nicht nur von Tat und Urteil in der Zeitung zu lesen, lehrt uns viel über uns selbst und unser Miteinander. Die Abgründe sind ja das Interessante und Spannende. Ein bisschen Voyeurismus und wohliger Schauer ist natürlich auch dabei. Nicht zuletzt sind die Geschichten der Anderen idoch überaus unterhaltsam.

Plotkes für den Marktplatz (und die Synagoge). 

Ein Leitartikel für die Jüdische Allgemeine zur Frankfurter Buchmesse 2019

https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/der-reiz-des-verbrechens/

Die Waage der Wahrnehmung

 

Gerichtsreportagen werden gerne gelesen. Doch in den Zeitungen fristet das Genre ein kümmerliches Dasein. Dabei ist kaum etwas so geeignet, uns vom Zustand der Gesellschaft zu berichten, hinter die Fassade zu schauen und Einblicke fremde Lebenswirklichkeiten zu geben. Wir müssen davon erfahren, um zu verstehen – was uns ausmacht, wie wir werden, was wir sind, und welche Folgen soziale Missstände für die Gesellschaft haben können. 

In der Hauptverhandlung werden die Lebensumstände und die Biografie der Angeklagten erörtert und später vom Gericht im Urteil gewürdigt; es macht ja einen Unterschied, ob jemand aus Gier oder Armut stiehlt. Leider sitzt gerade im Amtsgericht, vor dem die Alltagskriminalität verhandelt wird, nur selten die Presse im Publikum. Ohne die Beobachtung durch den Berichterstatter ist manche Kammer jedoch geneigt, „das dünne Brett zu bohren“, wie es eine Amtsrichterin einmal formulierte, und das Verfahren aus „prozessökonomischen Gründen“ abzukürzen. 

Meist sind es nur die großen Fälle der Landgerichte, die die Presse anziehen, weil sie auch überregional Aufsehen erregen. Bedauerlicherweise erscheint das Gros der Journalisten nur zur Verfahrenseröffnung und Urteilsverkündung. Diese verkürzte Berichterstattung führt zu einer verzerrten Wahrnehmung der Arbeit der Justiz. Für den Leser, dem man nicht die ganze Geschichte erzählt, passen Anklage und Urteil so oft nicht zusammen. 

Sie seien unbeeindruckt von der Anwesenheit der Presse im Saal beteuern die Richter und Staatsanwälte. Doch eine sorgfältige, umfassende Berichterstattung kann Fragen aufwerfen, denen sich zumindest die Staatsanwälte ihrem Dienstherrn im Nachgang stellen müssen. 

Auf das Urteil hat die Presse keinerlei Einfluss, mit einer kleinen Einschränkung: Erfolgt in der Berichterstattung eine mediale Hinrichtung des Angeklagten, kann sich das im Einzelfall durchaus strafmildernd auswirken.

Sind die Folgen der Verdachtsberichterstattung und Vorverurteilung derart gravierend, dass nicht nur der Ruf eines Angeklagten (und manchmal seiner Angehörigen gleich mit) nachhaltig beschädigt ist, wird das Gericht dem Rechnung tragen. Die Strafe der sozialen Ächtung, manchmal bis hin zur Existenzvernichtung kommt dem Urteil oft zuvor. Im Fall eines jungen Mannes, der eine Frau totgefahren hatte, empfing ihn vor dem Gericht am ersten Verhandlungstag eine Menge an Zuschauern, die ihm rieten, sich aufzuhängen. In Fällen, die besonders geeignet sind, die Allgemeinheit zu empören, wie Kindesmissbrauch oder Vergewaltigung bleibt selbst bei einem Freispruch durch tendenziöse Berichterstattung etwas hängen nach dem Motto: irgendetwas wird schon dran gewesen sein. 

Weil dem so ist, haben sich mittlerweile zwei Vorgehensweisen des amerikanischen Strafrechts auch hierzulande im Gerichtssaal etabliert. „Litigation PR“ und das „Opening Statement“. 

„Litigation PR“ ist der Versuch, die Berichterstattung im Sinne des Angeklagten positiv zu beeinflussen. Im Fall eines bekannten Hamburger Unternehmers ging die Verteidigung schon mit Prozessbeginn in die Offensive, verteilte fortlaufend Pressemappen und sandte E-Mails in die Redaktionen. Sein Medienanwalt verstieg sich in den Verhandlungspausen gar zu lächelnd vorgetragenen Drohungen an Pressevertreter. Die beiden Verteidiger richteten sich während des Prozesses hauptsächlich an das Publikum und die Journalisten statt  an Staatsanwaltschaft und Kammer. Nicht alle Journalisten zeigten sich davon unbeeindruckt oder gar abgestoßen. Im Gegenteil: Der Verteidigung gelang es, sich einen „Hofberichterstatter“ zu erschaffen. Zwar saß der Reporter fast nie in der Hauptverhandlung. Aber er veröffentlichte fleißig in einer überregionalen Zeitung und hielt sich in seinen Berichten getreulich daran, was ihm die Verteidigung eingab. 

Von den Berufsrichtern wird allenfalls mit Erstaunen und Kopfschütteln zur Kenntnis genommen, wie und was berichtet wird. Doch die Laienrichter, die Schöffen, kann die Berichterstattung im Laufe eines Verfahrens durchaus verunsichern. Sie haben, wie die Zuhörer, keinen Einblick in Akten und Anklageschrift. Sie sollen sich ihr Urteil allein danach bilden, was in der öffentlichen Hauptverhandlung mündlich erörtert wurde. Aber Laienrichter leben ja nicht abgetrennt von der Welt. Auch sie lesen Zeitung, hören Radio. 

Versuche von Verfahrensbeteiligten, auf die Presse einzuwirken, gibt es zahlreich. Meistens von Seiten der Verteidigung, seltener der Staatsanwaltschaft. Selbstverständlich ist es für Angeklagte und Zeugen höchst unangenehm, wenn intime Details aus ihrem Leben in der Zeitung berichtet werden, selbst wenn, außer in den sehr prominenten Fällen, die vollen Namen nicht genannt werden. Das Umfeld weiß ja, um wen es sich handelt. 

Die zweite, ebenfalls aus Amerika kommende Vorgehensweise ist das „Opening Statement“, mit dem die Verteidigung direkt nach Verlesung der Anklage, noch bevor in die Beweisaufnahme eingetreten wird, ihre Sicht des Geschehens darstellt. Ein Strafverteidiger begründete dieses Vorgehen einmal so: Weil die Schöffen die Anklage jetzt zum ersten Mal gehört hätten und die Presse bei der weiteren Verhandlung vermutlich nicht anwesend sein werde, sehe er sich gezwungen, noch vor der Beweisaufnahme seine Sicht auf die Dinge darzulegen. Man kann das als Versuch werten, die Laienrichter und die Öffentlichkeit zu manipulieren – oder man sieht darin das Bemühen, Waage und Wahrnehmung in Balance zu halten. Viele Journalisten stöhnen dann: sie wollen eine schnelle, griffige Geschichte, die in die wenigen Zeilen reinpasst, die ihnen ihr Blatt einräumt. Gerne wird von vielen der Einfachheit halber der Sicht der Anklagebehörde gefolgt. Ist der Prozess aufsehenerregend genug und eine kontinuierliche Berichterstattung wert, schicken die Redaktionen oft wechselnde Vertreter als (Vormittags-)berichterstatter vorbei, die mit dem Verfahren nicht vertraut sind. Das schadet nicht nur dem Ansehen der Presse. Die „Vierte Gewalt“ kann so auch ihrer Kontrollfunktion nicht gerecht werden. Die „prozessuale Wahrheit“ lässt sich nicht häppchenweise vermitteln. Eine solche Berichterstattung haben weder die Angeklagten noch die Justiz verdient. 

Der Text erschien 2021 im Almanach »Die Vierte Gewalt« der Deutschen Gesellschaft für Qualitätsjournalismus


Eva, Lilith und das Mondlicht

Eine Rezension zur ersten Sonderausstellung »Die weibliche Seite Gottes« im neueröffneten Jüdischen Museum in Frankfurt

»Die weibliche Seite Gottes« heißt die erste Sonderausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt, die dem Publikum schon kurz nach der Neueröffnung des Museums in der vergangenen Woche vorgestellt wurde – eine klar feministische Ausstellung, das passt zur Zeit.

Die Schau will den Spannungsbogen von Kulturgeschichte zu moderner Kunst ziehen, so die Direktorin Mirjam Wenzel bei der Eröffnung. Transkulturelle Vorstellungen weiblicher Gottheit in Judentum, Christentum und Islam sollen vermittelt werden, zwischen Kunst und Ritual – mit spektakulären Exponaten, die dem Publikum leider nicht hinreichend erklärt werden.

 Die kulturhistorischen Ausstellungsstücke reichen von bis zu 7000 Jahre alten Figurinen weiblicher Göttinnen aus dem alten Israel über eine Esther-Rolle, die im 16. Jahrhundert von einer jüdischen Frau in Venedig gefertigt wurde, den göttlichen Visionen der Hildegard von Bingen bis zu einer Madonnendarstellung aus dem Mittelalter als übermächtige, gleich einer Göttin thronenden Mutter.

Der Großteil der Exponate sind Werke zeitgenössischer Künstlerinnen, viele davon Installationen. Die Bandbreite der Themen reicht von der Auseinandersetzung mit den Sujets »Eva und die Schlange« und »Lilith« bis zum als Selbstermächtigung bezeichneten Zugriff auf Vorrechte in kultischen Handlungen, die Männern vorbehalten waren.

Das alles ist spannend und faszinierend. Jacqueline Nicholls’ »Maternal Torah« etwa, die aus Elementen eines Toramantels ein Korsett formt. Es schwebt in der Ausstellung zwischen einem klassischen Toramantel aus dem 19. Jahrhundert und Anselm Kiefers Werk »Schechina«. Schechina, die Einwohnung Gottes auf Erden, und Tora sind im Hebräischen weiblich.

Die Frau hat im Judentum eine mächtige Stellung. Sie ist die Hüterin der Tora und die Herrin des Hauses – davon können jüdische Ehemänner seit Jahrtausenden ein Lied singen. Im Talmud Nidda 45b heißt es gar: »Die Frau hat mehr Verstand zugeteilt bekommen als der Mann.« Ohne die Frau als sein Gegenpart ist der Mann unvollständig, »kein Mensch«. Bibel und Talmud sind voll von Erzählungen rebellischer Frauen, die den Männern gehörig aufs Dach stiegen und dafür keineswegs verurteilt wurden.In der Videoinstallation »Yalta’s Beit Midrasch« zertrümmert die Künstlerin Rubi Gat Weinflaschen auf einem Steinhaufen. Jalta, so die Überlieferung, soll auf diese Art erbost auf die ihr nicht erwiesene Ehrerbietung und Anerkennung durch den Gelehrten Ula reagiert haben. 

Der Talmud berichtet jedoch nicht nur von ihrer ziellosen Aggression, sondern auch von ihren höhnischen Worten Ula gegenüber: »Wanderer sind voll mit Worten, wie Lappen mit Flöhen.« Respektlos und deutlich waren jüdische Frauen schon vor Hunderten von Jahren. 

Frauen sind von gewissen religiösen Pflichten ausgenommen. Der Talmud jedoch berichtet zum Beispiel von Michal, der Tochter Schauls, die wie ein Mann Tefillin anlegte, und vielen Frauen, die im Tempel Opfer darbrachten. Ihr Fortschritt in der Moderne in Sachen Gleichberechtigung im Kultus illustriert in der Ausstellung die Ordinierungsurkunde der ersten deutschen Rabbinerin Regina Jonas aus dem Jahr 1935.

 Im Hebräischen gibt es für »Seite« und »Rippe« nur ein Wort, Sela, was in den Übersetzungen für Spielraum sorgt, die Stellung der Frau zu verorten: Mit einer fehlenden Rippe kann man bequem leben, fehlt einem eine ganze Seite, hingegen nicht. Hinzu kommt ein Problem, das der Tanach selbst produziert. Im ersten Kapitel des 1. Buches Mose heißt es: »Gott sprach, lasst uns einen Menschen machen … nach unserer Ähnlichkeit; männlich und weiblich schuf er sie: ein Paar.«


Die Ausstellung suggeriert, es gebe zwei Varianten der Erschaffung des Menschen. Doch nach mehrheitlicher rabbinischer Auffassung ist die Version im zweiten Kapitel des 1. Buches Mose lediglich eine längere Fassung. Demnach teilte Gott den Menschen, nicht den Mann, indem er ihm eine Rippe entnahm: Adam bedeutet Mensch und ist hergeleitet von Adama, Erde. So wurden Mann und Frau erschaffen. 

Aus diesen im Frühmittelalter als widersprüchlich angesehenen Darstellungen entstand die mystische Vorstellung einer ersten Frau Adams, der Dämonin Lilith, und Eva als zweiter Frau. Liliths Ungehorsam Gottes Weisung gegenüber, nicht die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu kosten, macht sie in dieser Lesart zur gefährlichen, widerspenstigen Verführerin. Sie wurde später zu einer Ikone der Frauenbewegung.

 In »mystisches Mondlicht« ist ein fensterloser Ausstellungsraum zwischen zwei Spiegelwänden getaucht; seltsam kalt wirkt er so mit seinen warmen, kostbaren und berührenden Exponaten. Der in antiker Zeit unerklärliche Mondwechsel wurde in Verbindung gesetzt mit dem weiblichen Zyklus, erläutert eine der Kuratorinnen der Ausstellung.

Ein zentraler Kritikpunkt: Die Exponate sind nur knapp mit Namen und Titel versehen. Im ausliegenden Begleitheft werden sie nur kurz erläutert, Wissen und Verständnis von Überlieferung, Kult und Traditionen dabei voraussetzend. Dadurch bleibt die Ausstellung eine Art Insiderprodukt. Schade, gleichwohl interessant wegen ihrer Qualität. Aber das Jüdische Museum Frankfurt, dieses großartige und jetzt neu gestaltete Haus für alle, sollte sich auch auf seinen Extrapfaden lesbar für alle zeigen.

Der Artikel für die Jüdische Allgemeine erschien am 29.10.2020

https://www.juedische-allgemeine.de/religion/eva-lilith-und-das-mondlicht/

Ich bin doch kein Psycho!

Depressionen sind unbehandelt eine tödliche Erkrankung. Es gibt Hilfe. Man muss sie nur suchen – und wollen. Bevor es zu spät ist.

Schon wieder eine Beerdigung. Schon wieder ein Freund, der sich das Leben genommen hat. Schon wieder das schräge Miteinander einer Trauerfeier; diese Mischung aus untröstlichem Weinen und dem lachenden Austausch schöner Erinnerungen; eine endlose Sinuskurve der Gefühle. Die regungslose Stille dazwischen und immer, immer wieder die hilflosen Fragen, was man hätte tun können, um diesen Suizid zu verhindern. Bemerken müssen und wann – ja, wann fing es an –, dass jemand sich in diesen tiefschwarzen Tunnel begab, der enger und enger wird, einen irgendwann so fest einquetscht, dass man sich nicht mehr umdrehen kann. 

So wie uns quälen diese Fragen unzählige Angehörige und Freunde. Mindestens 11.000 Menschen nehmen sich in Deutschland jedes Jahr das Leben, dreißig – jeden Tag. Etwa 600 Menschen unternehmen hierzulande eine Suizidversuch – jeden Tag. Die tatsächlichen Zahlen dürften noch höher liegen; in vielen Fällen wird ein Suizid als solcher nicht erkannt, bei Autounfällen oder  Medikamentenvergiftungen älterer Menschen zum Beispiel, die absichtslos erscheinen, es aber nicht waren. 

Suizid ist die vierthäufigste Todesursache in Deutschland.

Dass, wer davon spricht sich umzubringen, es eher nicht tut, ist ein Mythos. Dass ein Suizidversuch in der Regel nur ein Hilfeschrei ist, ohne die feste Absicht zu sterben, auch einer. Menschen, die einen Suizidversuch überlebt haben, sind die größte Risikogruppe, es wieder und diesmal erfolgreich zu tun. Das hängt ganz banal von den gewählten Methoden ab.

Todesursache ist „in über 90 Prozent“ eine psychiatrische Erkrankung, so Professor Andreas Reif, Direktor der Psychiatrie am Frankfurter Universitätsklinikum. Die Depression ist die Häufigste davon. „Von freiwillig aus dem Leben scheiden“ könne keine Rede sein. 

„Die unbehandelte Depression führt zum Tod“, sagt der Frankfurter Psychotherapeut Johannes Winges. „Es gibt viele Routen zum Suizid“, oft ist es kein Todeswunsch, sondern der „eingeengte Blick: ich halte das so nicht mehr aus“, das Leben mit dem Leiden, so Reif.

Psychische Erkrankungen sind weit verbreitet. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) geht davon aus, dass 27,8 Prozent der Bevölkerung jedes Jahr psychisch erkrankt. Doch nur ein Fünftel davon sucht sich professionelle Hilfe. Obwohl sich in der Aufklärung und Prävention in den letzten zehn Jahren viel getan hat, sind Depressionen immer noch mit einem Stigma belastet; die Scheu, sich rechtzeitig Hilfe zu suchen, ist groß. Der Gedanke, nicht als „Psycho“ dastehen zu wollen, führt in die Isolation, und diese verstärkt sich immer mehr, je schlechter es den Menschen geht, ihnen aber die „Krankheitseinsicht“ fehlt, sich Hilfe zu suchen, sagt Professor Verhoff, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin in Frankfurt.

Die Statistiken seines Instituts verdeutlichen für den Laien sehr eindrücklich das Leiden. Im strahlenden, warmen Juni letztes Jahr nahmen sich fünfzehn Menschen in Frankfurt das Leben; ein Hoch, gewiss, den Jahresdurchschnitt in Frankfurt beziffern die Rechtsmediziner auf neunzig Personen, plus einer Fehlerquote zwischen zehn und zwanzig Prozent.

Während viele „Normale“ ein wenig Winterblues haben und im Frühling, der endlich Licht und Wärme bringt, bei ihnen die Lebensfreude wieder erwacht, tut sich bei Depressiven eben nichts. „Man merkt, es wird schön, aber es passiert nichts, ich werde nicht fröhlich“, so Verhoff. Eine „mangelnde Fähigkeit«, überhaupt auf äußere Reize zu reagieren – „den Depressiven kann eben nichts erfreuen“. Hilflose Appelle im Umfeld, „jetzt reiß dich mal zusammen, unternimm mal was Schönes“ führen zu nichts. „Das ist, als würden Sie zum einem Rollstuhlfahrer sagen, du musst einfach nur aufstehen“, erklärt Reif. Depressive sind eben nicht einfach „schlecht drauf“, nur in einer Lebenskrise, wie sie jeder erlebt – sondern krank. 

Von außen sei das für viele oft schwer zu verstehen, sagt Winges. „Die Leute sind immer überrascht, wenn sie reiche Menschen sehen, denen es schlecht geht, die eine Depression haben. Du hast doch ne Villa, Frau und Kinder und Millionen – ja, aber ich hab Angst den ganzen Tag.“ Oder, in den Worten von Professor Reif: „Man kann eine Depression haben im glücklichsten Leben – genauso wie einen Herzinfarkt.”

Oft geht die Depression einher mit einer Vielzahl von Begleitsymptomen, häufig einer Angststörung. „Wir behandeln die Depression, als wäre es eine Erkrankung, dabei ist es ein Sammeltopf, ein Syndrom, das verschiedene Ursachen hat.“ Eine Art „Fieber des Gehirns“, so hat es eine Mitarbeiterin Reifs einmal beschrieben. Die Erfahrung des Arztes und seine Sensibilität bei der Wahl der Mittel sei deshalb entscheidend, sagt Verhoff, „das ist im wahrsten Sinne die Heilkunst“. Und manchmal ist die Verschreibung „nach Lehrbuch“ vielleicht nicht die Beste. Der in Frankfurt niedergelassene Psychiater Martin Finger bestätigt das. Doch der Umgang mit den Patienten allgemein müsse sich streng an die Leitlinien halten, nur so könne bestmögliche Hilfe geleistet werden. 

Die Leitlinien geben den Psychotherapeuten auch vor, wann ein Patient ein Fall für den Psychiater ist, sagt Winges. Die Psychotherapie ist ein Heilberuf, Medikamenten dürfen Psychotherapeuten im Gegensatz zu Psychiatern nicht verschreiben.

Wichtig ist es, über die Wirkungsweise der Medikamente aufzuklären. Natürlich haben auch Psychopharmaka Nebenwirkungen, was oft nach einer Verbesserung des Befindens dazu führt, dass die Patienten sie eigenständig absetzen oder, bei nachlassender Wirkung, noch alles mögliche an Drogen und Alkohol nebenbei konsumieren.

Dummerweise ist es mit den Antidepressiva wie mit dem Licht, der Sonne im Frühjahr. Sie wecken zuerst den Antrieb – Wochen bevor die Stimmungsaufhellung sich einstellt. Und bei manchen eben den Antrieb, nun zur Tat zu schreiten. Deshalb wird in der Regel zusätzlich ein sedierendes Mittel gegeben. Weit verbreitetet ist die Ansicht, man würde in der Psychiatrie nur „stillgelegt“ – die Sedierung dient schlicht der Lebensrettung und ist zeitlich begrenzt, bis die erhoffte bessere Verfassung sich einstellt. Wingens begrüßt eine Reform von Jens Spahns Gesundheitsministerium, dass nun auch Therapeuten, die ja keine Ärzte sind, Patienten in eine Klinik überweisen dürfen, wenn sie Lebensgefahr sehen.

„Psychotherapie ist hilfreich und wichtig“, doch Schwerkranke bräuchten dringend Medikamente und deshalb die Hilfe eines Psychiaters, erklärt Reif, denn „kognitive Defizite“ seien ein Kernsymptom: die Patienten sind gar nicht in der Lage, neue Denkmuster zu lernen und aufzunehmen, was ihnen ein Psychotherapeut zu vermitteln versucht. Reif vergleicht es mit einem komplizierten Beinbruch, der natürlich der Physiotherapie bedarf – nachdem er von einem Orthopäden versorgt wurde.

Obwohl die Zahl der erfassten Suizide immer noch sehr hoch ist – seit 1980 ist es gelungen, die Fallzahlen zu halbieren. Seit 2010 stagniert die Rate jedoch. Für den Rückgang macht Professor Reif im Wesentlichen vier Faktoren verantwortlich: die psychiatrische Versorgung habe sich deutlich gebessert; Patienten lassen sich eher behandeln, weil psychische Erkrankungen „etwas weniger stigmatisiert sind“ als früher. Auch seien Depressionen „mehr im Bewusstsein der Ärzte. Was vor dreißig Jahren als psychovegetativer Erschöpfungszustand oder als Muskelschmerz verschwurbelt wurde“, wird heute als Depression erkannt. Der vierte wichtige Punkt ist die „Methodenrestriktion“, wie zum Beispiel die Sicherung von hohen Gebäuden und das Anbringen von Notfalltelefonnummern an potentiell tödlichen Sprungmöglichkeiten und entsprechende Hinweise in der Berichterstattung. Die Erfahrung sage, dass Menschen tatsächlich eher zum Telefon greifen und um Hilfe bitten, als zum nächsten geeigneten Ort zu gehen. Reif sieht die Medien in großer Verantwortung, nicht en Detail über Suizide zu berichten, denn der Nachahmungseffekt ist statistisch belegt. Sorge bereitet ihm das Internet. Je ausführlicher über vermeintlich schmerzfreie Methoden berichtet wird, die eine „Todeswahrscheinlichkeit“ garantieren, desto mehr Leute folgen denen. Vor allem Frauen, die zwar doppelt so häufig an Depressionen und Angststörungen leiden wie Männer, aber vergleichsweise erfolgloser sind, von eigener Hand zu sterben. Das liegt schlicht an der Verfügbarkeit sicherer, schmerzfreier Mittel, so Reif. Aber Frauen würden sich eben auch allgemein besser um ihre Gesundheit kümmern und sich früher Hilfe holen.

Die höchste Suizidrate liegt bei Männern über Siebzig, international gesehen sind es Menschen zwischen fünfzehn und neunundzwanzig Jahren, gefolgt von denjenigen in der sogenannten »midlifecrises«. Die »Mitte des Lebens Krise«, so der Psychotherapeut Winges, in der einem vermeintlich klar wird, dass man bestimmte Dinge nicht mehr erreichen oder ändern können wird und einem ein »weiter so« unerträglich erscheint. Das Wort »Bilanzsuizid« mag und verwendet der Direktor der Frankfurter Psychiatrie nicht, aus medizinischer Sicht verständlich, ist es doch für ihn eine nur krankheitsbedingte eingeengte Sicht.

Die Symptome, wie sie früher vielleicht mit einem Achselzucken vom Hausarzt abgetan wurde, weil sich kein organischer Befund für ein Leiden ergab, erläutert die Allgemeinmedizinerin Corinna Zastrow: Schlafstörungen, frühes Erwachen, kreisende Gedanken, Seh- und Gedächtnisstörungen, Appetitlosigkeit, sozialer Rückzug, Muskel- und Magenschmerzen, Interessenlosigkeit… die Liste ist lang, die Frage, „Haben sie Selbstmordgedanken?“ zwingend und eine Überweisung zu einer psychiatrischen Ambulanz auch. Die Versorgungslage in Deutschland sei insgesamt sehr gut, so Finger. Akutfälle bekämen in der Regel in ein, zwei Tagen einen Termin bei einem niedergelassenen Psychiater oder in einer psychiatrischen Notfallambulanz; wenn es noch schneller gehen muss, sofort einen Platz auf der Akutstation einer psychiatrischen Klinik. 

Das Problem ist die Zeit danach. Die Rückkehr in das alte gewohnte Umfeld ist für den Patienten die gefährlichste Zeit. „Was für ein Umfeld haben die psychisch kranken Menschen“, fragt der Therapeut Winges, wohin werden sie entlassen, und wer ist für sie da und fängt sie auf? Psychische Erkrankungen überfordern schnell das Umfeld; die Gefahr, dass sich Angehörige und Freunde abwenden, ist groß. „Der Partner kann nicht therapieren“, sagt Reif. Der Kranke müsse sich nun mal selbst um eine Behandlung kümmern. Gegen seinen Willen darf in Deutschland niemand in die Psychiatrie eingewiesen oder festgehalten werden; wer, auch gegen ärztlichen Rat gehen will, darf das – wie in jedem normalen Krankenhaus auch. Außer, es liegt eine Tat von „Selbst- und Fremdgefährdung“ vor. Für die Selbstgefährdung gibt es einen Zeitraum von 24 Stunden, der den Klinikern bleibt, jemanden auf der Station zu halten. Über längere Zwangseinweisungen muss ein Richter entscheiden. Vor Gericht sind das dann die Fälle von paranoiden Schizophrenen, die mit Gewalt auf jemanden anderen losgehen. Die schwierige Frage von „Was ist Fürsorge und was ist Freiheit?“, nennt es Finger.

Die Einschätzung, wie gefährdet jemand tatsächlich ist, sich das Leben zu nehmen, ist auch auch für die Fachleute nicht einfach. „Man kann einem Menschen nun mal nicht in den Kopf sehen.“ Das sei „wie bei einem Aneurysma. Wir können es diagnostizieren, aber nicht vorhersehen, wann es platzt.“ Jeder Krankheitsverlauf ist individuell, die Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, kann genauso plötzlich fallen, wie im Stillen lange Zeit geplant, auch ohne das es jemand im  Umfeld bemerkt.

Angehörige können zu Beginn einer Erkrankung eine „Persönlichkeitsveränderung ansprechen, ihre Sorge vermitteln und versuchen, den Menschen in eine fachmännische Behandlung zu bringen“, sagt Reif – doch Hilfe wollen und sich suchen muss derjenige schon selbst.

Jedoch sei „das System ist nicht gesteuert“, so der Direktor der Psychiatrie des Universitätsklinikums Frankfurt. Siebzig Prozent der Krankenkassengelder gingen an die niedergelassenen Psychotherapeuten, die aber gerade mal ein Fünftel der Patienten versorgen. In Zahlen: während ein Psychotherapeut 50-60 Patienten pro Quartal hat (eine Sitzung dauert nun mal eine Stunde), sind es beim niedergelassenen Psychiater 400-700. Hinzu käme, dass oft derjenige am ehesten Hilfe bekomme, der am lautesten schreit oder sich im Erstkontakt gut, das heißt als „einfach“, darstellt, kritisiert Reif. Die niedergelassenen Psychotherapeuten weisen das von sich, doch das sei etwas, „was Patienten immer wieder berichten“.

Als Klinikleiter hat Reif natürlich in erster Linie mit den „harten Fällen“ zu tun, die ein niedergelassener Therapeut „gar nicht sieht“, sagt er. Im Schnitt dauert es zwischen drei bis sechs Monaten, bis jemand eine „Richtlinientherapie“ bekommt. 

Eine Zeit, kaum auszuhalten für viele.

Unser Freund konnte nicht warten. Zu der Depression hatten sich Panikattacken gesellt. Das Medikament, das ihm in letzter Zeit half, war nicht lieferbar. Das gut wirksame Venlafaxin ist seit Monaten nicht lieferbar, in höheren Dosen in der Schweiz schon, aber kämpfe mal mit der Kasse um die Bezahlung. Freiwillig ging er in die Psychiatrie, wo man ihn nach drei Wochen entließ. Bei der Ambulanz, die er sich vorstellen konnte, anschließend täglich aufzusuchen, gab es eine monatelange Warteliste. Er wollte nicht sterben. Nur die Ängste, die hielt er nicht aus.

Drei Tage nach der Entlassung aus der Psychiatrie nahm er sich das Leben.

Danke an meine geduldigen Gesprächspartner: Professor Dr. Andreas Reif, Direktor derPsychiatrie am Universitätsklinikum Frankfurt und Dr. Silke Matura, psychologische Psychotherapeutin dort; Professor Dr. Marcel A. Verhoff, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin in Frankfurt; den in Frankfurt niedergelassenen Psychotherapeuten Johannes J. Winges und dem niedergelassenen Psychiater und Psychotherapeuten Martin Finger; die Allgemeinmedizinerin Corinna Zastrow.

Der Artikel erschien zuerst am 18. Oktober 2020 auf dem Blog der Salonkolumnisten.

https://www.salonkolumnisten.com/ich-bin-doch-kein-psycho/

Hier wird nicht mehr berlinert

Die Oderberger vor drei Jahren wieder zu betreten, war ein Schock.

So hell und vor allem so farbenfroh war sie geworden. Ich kannte sie nur grau in allen Schattierungen. Über zwanzig Jahre hatte ich den Stadtbezirk, in dem ich zu DDR-Zeiten aufgewachsen war, nicht mehr aufgesucht. Ich war zum Studium nach Frankfurt am Main gezogen und blieb dort hängen. Wenn ich nach Berlin zurückkehrte, verbrachte ich die Zeit im Westteil, wo Freunde lebten, die ich kurz nach der Wiedervereinigung der Stadt kennengelernt hatte und die meine Zweitfamilie wurden. Von meinen alten DDR-Freunden und Bekannten wohnte fast keiner mehr im Prenzlauer Berg, die meisten waren eins weiter nach Pankow geflüchtet, wo ich zur Oberschule gegangen war. Es gab niemanden mehr zu besuchen für mich im alten Viertel, den nun alle »Kiez« nannten und »Prenzlberg«.

Unsere alten Nachbarn, die jahrzehntelang in den großen Altbauwohnungen mit Ofenheizung hinter den abgerockten Fassaden, mit Einschusslöchern aus dem Krieg und abgebrochenen Balkonen gewohnt hatten, mussten ihr Zuhause verlassen. Die Rente reichte nicht für »Schöner Wohnen« mit Badsanierung, Heizung und Lift, die ihre Mieten verdrei-, vervier-, verfünffacht hatten. Zu DDR-Zeiten waren es oft junge Familien gewesen, die in die Plattenbauten nach Lichtenberg oder Hohenschönhausen zogen. Heizung, fließend warmes Wasser und Dächer, durch die es nicht durchregnete, machten das Leben mit kleinen Kindern komfortabler, statt nach einem langen Arbeitstag erst Kohlen aus dem Keller zu holen, um für Wärme zu sorgen. Und Klo halbe Treppe, immer mit der Gefahr, dass die Wasserleitungen im Winter einfroren, kann nicht mal ein hartnäckiger Anfall von Nostalgie heute schön malen.

Die eiskalten Wohnungen im langen Berliner Winter, wenn man abends nach Hause zurückkehrte und die frühmorgens beheizten Öfen bereits schon wieder erkaltet waren, habe ich nicht vergessen, trotzdem hätte ich nie in einer Neubausiedlung wohnen wollen, wo die Wände so dünn waren, dass man den Nachbarn Knäckebrot essen hörte, wie wir sagten.

Die alten Dielen in unseren Wohnungen waren mit »Ochsenblut« gestrichen, wer den Anblick der rotbraunen Farbe nicht ertrug, legte Teppichware drauf (so er sie ergatterte) oder schliff den Anstrich selber ab.

Meine Heimat roch nach Kohleöfen und Zweitaktern. Beim Bäcker in der Wörther Straße gab es für ein paar Pfennige Kuchenränder nach der ekligen Schulspeisung, ganz so wie in den Kinderbüchern von Erich Kästner.

Fleischer Dufft in der Oderberger war der König des Viertels, die Leute standen Schlange vor seinem Laden, Stunden, bevor er öffnete. Der Fotograf Harald Hauswald hat es festgehalten. 

Harald Hauswald – im c/o Berlin ist jetzt eine Retrospektive seiner Arbeit zu sehen.

Als Telegrammbote verdiente er sein Geld und kam so in die hintersten Winkel des Viertels, die Kamera immer dabei. Ich kneife die Augen zu, wenn ich jetzt dort bin – täuschen mich meine Erinnerungen? Aber hier war doch…? Und dieser Hof hier? Ich finde mich oft nicht zurecht mit der Überlagerung der Bilder aus meiner Erinnerung und Hauswalds und dem, was ich jetzt sehe. Die Verwirrung entsteht nicht nur durch die jetzt so herrlichen Fassaden der Häuser, mir fehlen die Menschen, die dort lebten als ich klein war. Die Alten, die als Kinder Käthe Kollwitz noch kannten, die Arbeiter, die in irgendeinem VEB angestellt waren und nach Feierabend Bier und Korn im Prater und den unzähligen Kneipen des Viertels soffen, rauchend und mit Berliner Schnauze. Die aus dem System gefallenen Dissidenten, die mit ihren Texten und Liedern ihre Freiheit riskierten, tatsächlich. Heute sehe ich nur Leute dort, die sich laut »kritisch« gebärden, nichts riskierend, lächerliche persönliche Bedrohungsszenarien perpetuierend, in ihrer Blase lebend, Wohlstandskinder aus dem Westen.

Mir fehlen, obwohl ich zu jung war, dort reingelassen zu werden, die ollen Schwulenkneipen der Ecke, aus denen Schlager und Rauchwolken drangen und die geheimnisvoll schummrig beleuchtet waren. »Bermudadreieck« nannte man die Gegend um den U-Bahn-Hof Dimitroffstraße, der nun Eberswalder Straße heißt. Wir reden heute von Gender und Diversität, aber diese geschützten Treffs Gleichgesinnter haben die Zeit nicht überlebt in diesem komplett gentrifizierten Bezirk. Natürlich hat das nach der Wiedervereinigung mit simplen ökonomischen Gründen zu tun. Aber ich kriege dummerweise immer noch Herzschmerzen, wenn ich nun Yogastudios, vegane Imbisse oder Läden mit liebevoll handgefertigen Dingen dort finde, die schön sind, aber niemand braucht. Ich vermisse die alten trunken-tränennassen Augen dieser Männer, die kaum ein Wort über sich und ihre Existenz im Verborgenen verloren und so überaus höflich waren. Die dauergewellten älteren Damen in der Polyesterschürze, die uns ankeiften, wenn wir zu laut im Hof waren.

Der Prenzlauer Berg war ein Arbeiterbezirk wie der Wedding im Westen. Neben den vielen Proletariern, die seit Generationen dort lebten, minus der deportierten Juden, hatte sich am Charakter des Viertels zu DDR-Zeiten nicht viel verändert. Die jüdischen Mitbewohner fehlten, aber wohl den meisten nicht zu sehr, man sprach nicht über ihr Verschwinden, aber das war und ist an jedem Ort Deutschlands so, Ost wie West, nichts gewusst, nichts gesehen, „man konnte ja nichts tun“. Der alte jüdische Friedhof nahe des Kollwitzplatzes wurde als kurzer Durchgang zur Schönhauser Allee benutzt. Der »Judengang«. Mittlerweile ist der Zugang verschlossen.

Der Platz, an dem Kollwitz wohnte und ihr Mann seine Arztpraxis betrieb, ist immer noch ein Spielplatz, aber nun gibt es hier einen schicken Markt, man trifft sich dort, den Kinderwagen für den Preis einer Monatsmiete schiebend zum Holunderpunsch und in den ehemals heruntergekommenen, jetzt luxussanierten Wohnungen drumherum wird nicht mehr berlinert.

In der Oderberger gab es einen Durchgang zu einem Hof, der an die Kastanienallee grenzte. »Paradiesgarten« hieß der, bis er irgendwann durch eine Bürgerinitiative entrümpelt und begrünt wurde, eine drei Meter hohe Hirsch-Skulptur aus Schrottteilen dort aufgestellt und das Areal nun »Hirschhof« genannt wurde. Wir spielten dort, es gab Konzerte und Theateraufführungen, spontane Feste – die Stasi wahrscheinlich immer dabei. Hauswald hat es dokumentiert.

Um die Ecke in der Oderberger wohnten ein prominenter und verfemter Liedermacher und seine Frau, eine Regisseurin, beide bekamen Auftritts- und Berufsverbot. 1988 wies die DDR sie aus. Wir hörten seine Lieder heimlich, die Kassetten so oft kopiert und abgespielt, dass ein dumpfes Rauschen seine Stimme überzog, der Rekorder klackerte, bis das Band riss. 

Nun bin ich plötzlich wieder öfter hier. Ein Freund wohnt dort. Ein merkwürdiger Zufall wollte es, dass er nach langen Jahren in New York genau in den Bezirk meiner Kindheit gezogen war. Muss ich dazu sagen, dass er gebürtiger Schwabe ist?

Ich stehe auf seiner Terrasse, einer phantastisch-schönen Terrasse, angrenzend an eine natürlich bezaubernde Wohnung, wo früher nur ein verstaubter Dachboden war, und schaue in den Hof, der nun Privateigentum und verschlossen ist.

Die Dächer, über die wir, damals war ich noch schwindelfrei, von Haus zu Haus wanderten, durch die Dachluken stiegen – wo es nicht weiterging zum nächsten Haus dann runter durch die Keller und wieder hinauf, tragen keine billige Dachpappe aus Teer mehr, die notdürftig ihre Löcher stopfte. Wat habtn ihr hier zu suchen, ab innen Hof, ihr Jörn. Een Krach machen die wieda!

Kinder gibt es wieder viele im Prenzlauer Berg, sie tragen jetzt Helme und pfeifen nicht die Clique zusammen zum Spielen, ihre Eltern vereinbaren »play dates« für sie. Sie essen keine Kohlsuppe mit undefinierbaren Fleischresten in der Schulspeisung, sondern Bio-Huhn und Tofuwürstchen. Die Dachböden sind keine dunklen, geheimen Versammlungsorte der Bande mehr, in die man nur mit der richtigen Parole reingelassen und Schätze versteckt wurden. Dort sind nun offene Designerküchen, die Bretterböden feinstes Parkett, die Fenster groß und Mama und Papa wachen über ihre Kinder jede Stunde des Tages. Die Höfe sind aufgeräumt, gepflastert, hell und grün, keine ollen Schuppen stehen mehr da, es wird nicht mehr geschraubt dort, höchstens an einem Kunstwerk.

Eine irritierende Aggression überkommt mich jedesmal in dieser schönen neuen Welt. 

Haben wir, unsere Eltern, nicht den Verfall zu DDR-Zeiten so bedauert? Uns nach einem Bad mit fließend Warmwasser gesehnt, die verfallenen und abgeschlagenen Balkone betrauert, das Kohlenschippen und -schleppen verflucht? Und was haben wir gestaunt, als zur 750-Jahr-Feier Berlins die Husemannstraße verhübscht wurde, damit man ausländischen Gästen vorzeigen konnte wie schön es die Arbeiter nun im Sozialismus hatten im alten Arbeiterbezirk. Ein potemkinsches Dorf, die kurze Straße, den Rest der Fahrt der Staatskarossen müssen die Jalousien wohl zugezogen worden sein. Bei Spirituosen Wojatzke wurde weitergesoffen, trotz der schönen Fassade und hintenraus war sowieso alles so rottig wie zuvor. Schick war damals am Kollwitzplatz nur die Kneipe »1900«, in der Schauspieler vom Deutschen Theater verkehrten. 

Passé.

Den alten grau-bunten Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg, diese Mischung aus einfachen Leuten und subversiven Künstlern gibt es nicht mehr. Als hätte man nach der Restauration der Häuser eine Flut von Sagrotan über das Viertel gespült, nachdem die alten Bewohner es verlassen mussten, weil sie die Mieten nicht mehr zahlen konnten. 

Aber ist es nicht großartig, nun Restaurants und Bistros mit den Küchen der Welt dort zu finden? Was vermisse ich? Und was geht es mich an, lebe ich doch schon so lange nicht mehr in der Stadt. Ich führ‘ mich auf wie eine Verstoßende, wenn ich nun dort bin, finde mich albern und seltsam gekränkt. Was wollt ihr alle hier, möchte ich jedesmal rufen, das ist mein Zuhause.

Was ist schlecht an »handcrafted« Gin oder daran, dass das Schnitzel im Prater nun aus Kalbfleisch ist, wie es sich gehört und jeden Tag serviert wird, statt »Schnitzel is aus!« Es nun dazu guten Weißwein aus der Pfalz gibt und keiner mehr aus Verzweiflung süßlichen bulgarischen Rotwein trinken muss? 

Gentrifizierung, in Berlin nicht anders als in New York, Paris, London, die Anziehung einer Großstadt und die Verdrängung der Alteinwohner, nichts Besonderes, eine Entwicklung wie überall. Und auch vor hundert Jahren strömten Leute vom Land in die wachsende Stadt. 

Also was?

Suche ich Heimat? 

Ich höre das Stöhnen und Seufzen von Leuten aus der Provinz, die nach einem Besuch bei den Eltern resigniert vermelden, nichts habe sich geändert, die einen Stillstand im Denken und Leben beklagen, vor dem sie flohen und von denen viele genau das, wenn sie zu Besuch sind, genießen. Sei es, weil es ihnen ermöglicht, sich dort weltläufig und auf der Höhe der Zeit zu fühlen oder weil sie insgeheim die vertraute, übersichtliche heimische Umgebung vermissen, von der sie am liebsten ein Stück nach Berlin verpflanzten. Und es auch tun.

Restriktionen des sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaats gegen Bürgerinitiativen, die uns Grünflächen erstritten und den Abriss der heruntergekommenen Gründerzeitbauten verhinderten, sind nun ersetzt durch Lärmbeschwerden und Rauchverbote der zugewanderten Provinzler, die zum Feiern kamen, das anything goes der Neunziger genossen und nun um ihren und den Schlaf ihrer spätgeborenen Kinder fürchten. Für uns »Zonenkinder« gibt es hier keine Heimat mehr. 

Nach dem Bau der Mauer wurde im Westteil eine Aussichtsplattform errichtet, auf der zuerst Angehörige auseinandergerissener Familien in die Oderberger winkten, später Touristen aus aller Welt sich die Ostler anguckten, wie Affen im Zoo. Jetzt sind die Touristen in der Straße, der schönen Straße. Viele der nun luxussanierten Wohnungen sind Airbnbs.

Aber ist es nicht wunderbar, nun alle Sprachen der Welt dort zu hören? Haben wir uns nicht so sehr nach einer grenzenlos offenen Welt gesehnt?

Diskussionen, bei denen man sich tatsächlich um Kopf und Kragen reden konnte, finden im Prenzlauer Berg nicht mehr statt, die vermeintliche persönliche Bedrohung der Diskutanten im Schwarzsauer ist eine eitle westdeutsche Selbstinszenierung, die nichts als das eigene Ego kennt und vor der die Nachkommen der Alteinwohner aus dem Viertel ihrer Kindheit angewidert flohen. Man ist dort jetzt unter sich und einig, was die richtige Weltanschauung ist. Berlinert wird dabei nicht, von den neuen Bewohnern ist kaum jemand in der Stadt aufgewachsen. Der Prenzlauer Berg ist jetzt sauber und ordentlich, Krawalle veranstalten nicht mehr Stasi und Volkspolizei, sondern besoffene Touristen, vom Angebot im Späti überwältigt.

In den Fotos von Harald Hauswald begegnet mir mein Prenzlauer Berg, ich meine die Menschen wiederzuerkennen, die ich ja doch nicht kannte, oder doch? Bin – wie in eine Zeitmaschine versetzt – wieder in meinem Zuhause, das es nicht mehr gibt.

Harald Hauswald
Voll das Leben! . Retrospektive
bis zum 23. Januar 2021
C/O Berlin Foundation . Amerika Haus . Hardenbergstraße 22–24 . 10623 Berlin

 Der Text erschien am 20. September 2020 bei den SALONKOLUMNISTEN

http://www.salonkolumnisten.com

Der Blick in menschliche Abgründe – was fasziniert uns an „true crime“?

Was einen Menschen ausmacht, wird sichtbar, wenn er in Extremsituationen kommt. „Jeder Mensch ist ein Abgrund: es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“, heißt es in Büchners „Woyzeck“, und das ist natürlich wahr. Gut und schlecht stecken in jedem von uns. In die Abgründe zu schauen, hinter die Fassade zu blicken, fasziniert uns, weil wir so verstehen, was uns ausmacht.
Bei einer Lesung aus meinen Gerichtsberichten in einer kleinen Stadt saß in der ersten Reihe ein älteres Ehepaar. Während sie hochkonzentriert und sichtlich bewegt zuhörte, blieb sein Gesicht verschlossen, war voller Abwehr. Vielleicht hatte seine Frau ihn mit ehetypischen, so spezifischen und sich doch so ähnelnden Druckmaßnahmen zu der Veranstaltung überredet. Ich las die Geschichte eines Mannes, der seinen Vater erschlagen hatte. Schilderte das Verfahren, das, was die Beweisaufnahme vor Gericht erbracht hatte, das Auftreten des Mannes und das der vielen Zeugen. Nach dem anfänglichen Entsetzen wächst bei den Lesern oft eine Art Verständnis und Mitgefühl, wie in diesem Fall, wenn man den Leuten die ganze Geschichte erzählt.
Dieser Ehemann jedoch rief nach der Lesung aus: „Das gibt es bei uns nicht!“ Es hielt ihn kaum länger auf dem Stuhl. Seine Frau warf ihm einen langen Blick zu. Weil sie anschließend ein Buch signiert haben wollte, musste er wohl oder übel noch etwas vor Ort verweilen, was ihn sichtbar Überwindung kostete. Eine andere Dame flüsterte mir zu, während ich schrieb und gleichzeitig das Ehepaar beobachtete, „Wegen des Herrn da vorhin: Im Nachbarort hat die Polizei vor zwei Wochen zwei Babyleichen in einer Tiefkühltruhe entdeckt. So viel zu ‚das gibt es bei uns nicht‘.“ Ich lächelte ihr freundlich zu und antwortete, man muss nur sehen wollen. Sie nickte.
Die meisten Menschen werden es weit von sich weisen fähig zu sein, einem anderen das Leben zu nehmen. Der Kellner meines Stammlokals begann mit mir eine Diskussion darüber. Ich warf ihm nur hin: „Stellen sie sich vor, sie sehen, wie jemand ihrer Tochter …“ – und schon hielt er inne in seiner Entrüstung.
Gerichtsreportagen wurden immer gerne gelesen, weil wir verstehen wollen, wie es dazu kommen kann, dass jemand die zivilisatorische Grenze überschreitet. Weil wir, wenn wir ehrlich zu uns sind, wissen, dass der Firnis oft dünn ist. Jeder kennt Momente des Zorns, unbändiger Wut, hat Augenblicke erlebt, in denen uns eine Banalität überkochen lässt, – der sprichwörtliche letzte Tropfen – und der Verstand aussetzt. Wir wissen um die Macht der Gier nach Geld und Liebe, nach Berührung und Anerkennung. Romantisch weichgezeichnet, die Sehnsucht. Wir sehnen uns nach Harmonie, nach einem Platz, an dem wir zu Hause sind, kommen mitunter mit schwerem Gepäck dort an und laden ihn mit all unseren Erwartungen auf. Die meisten Menschen sind zu allerlei Kompromissen bereit, nur um nicht allein zu sein – oder finanziell abgesichert. Was passiert, wenn unsere Hoffnungen, unser Vertrauen missbraucht wird? Die Liebe nicht erwidert wird oder zumindest nicht so, wie wir es uns wünschen? Unser Rückzugsort sich in einen Hochspannungssektor verwandelt?
Meistens geht die Sache ja irgendwie gut – zumindest in strafrechtlicher Hinsicht. Gerade wenn wir beobachten, wie das Minenfeld von Ehe und Familie, das Heim, sich in ein tatsächliches Schlachtfeld verwandelt, erfasst uns ein Schaudern. Wir lesen über Beziehungstaten wie von Stellvertreterkriegen, sind Davongekommene. Eine Art Katharsis, die es uns natürlich auch ermöglicht, nicht an die Leichen im eigenen Keller zu denken. Wie der ältere Herr bei meiner Lesung können wir uns kopfschüttelnd abwenden und uns als die besseren Menschen fühlen: Das würde ich nie tun!
Die Gerichtsreportage erzählt von der Fragilität unserer Existenz, von seiner Tragik und Komik. Sie berührt uns anders als ein Krimi, weil die Geschichten wahr sind, sich nebenan abspielen. Jeder kann Opfer werden oder Täter. Oft hat man einfach nur Glück. Der Situationen, in denen wir Schuld auf uns laden, sind unzählige. Der Schritt auf die Anklagebank ist oft nur ein kleiner.
„Wann Krieg beginnt, das kann man wissen. Aber wann beginnt der Vorkrieg“, schreibt Christa Wolf in ihrer Erzählung „Kassandra“.
Im Gerichtsprozess wird die Kette der Ereignisse, der Vorkrieg, für uns aufgerollt, Stein um Stein umgedreht, um zu verstehen, wie es zu einer Tat kam. Fremde Leben werden vor uns ausgebreitet, ein Blick in Parallelwelten. Vieles verstehen wir nicht, uns fehlt die Phantasie – oder wir halten sie in Schach. Doch bitten wir an Jom Kippur, dem Tag der Sühne, nicht nur um Vergebung für all die schlechte Dinge, die wir taten, sondern auch für die, die wir nur dachten. Versuchen, ein wenig die Rumpelkammer aufzuräumen – um anschließend im neuen Jahr genauso weiterzumachen.
„Vorgestalten“, nennen forensische Psychiater die finsteren Gedanken, wenn gekränkte Eitelkeit, fortlaufende Verletzungen, wie auch immer geartet, Rache wachsen lassen. Zu Straftaten führt nicht nur der Tunnelblick des Täters mit seiner individuellen Beschaffenheit und seiner Biografie, sein ganzes Umfeld spielt eine Rolle. Deshalb werden in der Beweisaufnahme vor Gericht all diese Dinge so genau wie möglich betrachtet. Es geht nicht um „Freifahrtscheine“, wie oft verächtlich über die Justiz gesagt und gedacht wird. Die Schuld eines Menschen wiegt individuell. Das versteht ja auch jeder. Zu stehlen aus Not ist etwas anderes, als zu stehlen aus Geiz. Ein Aufwachsen mit Misshandlungen anders zu bewerten, als ein wohlbehütetes. Die Hintergründe zu erfahren, nicht nur von Tat und Urteil in der Zeitung zu lesen, lehrt uns viel über uns selbst und unser Miteinander. Die Abgründe sind ja das Interessante und Spannende. Ein bisschen Voyeurismus und wohliger Schauer ist natürlich auch dabei. Nicht zuletzt sind die Geschichten der Anderen doch überaus unterhaltsam.
Plotkes für den Marktplatz (und die Synagoge).

Ein Leitartikel zur Buchmesse-Ausgabe der JÜDISCHE ALLGEMEINE, erschienen am 11.Oktober 2019.

Ein Universum der Einsamkeit

Für die Überlebenden der Schoa hat das Grauen nie ein Ende.
Bei den greisen Tätern wird heute gefragt, warum man sie in diesem hohen Alter noch anklagen soll.
Eine Erwiderung anlässlich des Prozesses vor dem Landgericht Hamburg gegen den 93jährigen Bruno D., Wachmann im KZ Stutthof.

„Das Leben und den Tod lege ich vor dir…und wähle das Leben, auf dass du lebst, du und deine Nachkommen!“, heißt es im 5. Buch Moses, Kapitel 30, Vers 19.
Nach der Befreiung des Lagers Bergen-Belsen starben dort noch 12 000 Menschen. Sie waren Muselmänner geworden, deren Seelenhaut mehrfach eingerissen war; die ihr eigenes Selbst, den letzten Seelenfunken und alle Willenskraft verloren hatten. Nahrung und Medikamente konnten ihnen nicht mehr helfen. Eine Ärztin sagte damals, diese Menschen hätten vielleicht eine Chance, wenn sie sofort in eine freundliche, normale Umgebung kämen, dem Vernichtungskosmos entronnen. Doch diese Welt gab es nicht.
Das Ausmaß der Vernichtung wurde vielen Überlebenden erst nach der Befreiung bewusst. Es kam niemand, der zu einem gehörte und holte einen heim. Es gab kein Zuhause mehr, in das man zurückkehren konnte, es gab die Menschen nicht mehr, die man liebte. Die Synagogen, die Schulen, die Bücher, die Zeitschriften. Die Kultur.
In einer Welt ohne Barmherzigkeit kann man nicht überleben. Das hebräische Wort für Erbarmen lautet: Rachmanut. Seine Wurzel ist Rechem, die Gebärmutter; Rachmanut, Rachmones auf Yiddisch, die Gebärmutterhaftigkeit, soll an den paradiesischen Zustand der Geborgenheit erinnern. Wer Ghetto und Lager überlebte, tat es, weil es ihm gelungen war, einen letzten Seelenfunken zu bewahren, den er mit einer Schutzhülle hütete. Einen „Reizschutz“, errichtete. Dazu musste man sich in einen Zustand begeben, den die Psychiater „psychic numbing“, Gefühlsabstumpfung, nennen. Ekel, Scham, Panik und Moralvorstellungen hatten abzustumpfen. Gleichzeitig brauchte es zwingend „Inseln der Menschlichkeit“ in diesem „Meer des Hasses“, wie Hillel Klein, Psychiater und selbst Überlebender, es beschreibt. Das konnten Kinderlieder sein, Erinnerungen, ein freundliches Wort, eine liebevolle Geste, das geteilte Brot.
Die Schriftstellerin Ruth Klüger beschreibt, wie versucht wurde mit Kindergedichten „dem sinnlosen und destruktiven Chaos…ein sprachlich Ganzes“ entgegenzuhalten. Marcel Reich-Ranicki schildert in seiner Autobiografie, wie überfüllt die Konzerte im Warschauer Ghetto waren, in denen die Menschen „für eine Stunde oder zwei, auf der Suche nach dem, was man Geborgenheit nennt, vielleicht sogar Glück“ suchten. „Sicher ist: sie waren auf eine Gegenwelt angewiesen.“
Intuitiv hatten die Überlebenden begriffen, dass sie sich sofort einen eigenen, sie umhüllenden Lebenskosmos schaffen müssen, um nicht zu sterben nach der Befreiung. Nicht nur an Krankheit, Auszehrung, schlechter medizinischer Versorgung, sondern an etwas bisher Unbekanntem: dem „Vakuum, dass die Vernichtung eines ganzen Volkes hinterlässt“, wie der Psychotherapeut Isidor Kaminer sagt. In den DP-Lagern der Alliierten, den Streugutlagern für Überlebende, wurde sofort, von den Bewohnern selbst organisiert, alles dafür getan, weiterleben zu können. Es wurde geheiratet, Kinder wurden geboren. Es wurde unterrichtet, musiziert, Theater gespielt. „Die menschlichen Trümmer“, wie ein Soldat der jüdischen Brigade der British Army diese Menschen nannte, ließen sich auch auf Feldbetten zu den Aufführungen tragen. Zeitschriften wurden produziert, Bücher verlegt. Bücher, wie lange hatte man die Bücher entbehrt. Der „Rest der Entronnenen“, wie sie sich selber nannten nach einem biblischen Ausdruck, wählte das Leben, nach dem Gebot, der Mitzwa: „Du sollst das Leben wählen“ und versuchte, aus einem Lagermenschen wieder ein Mensch zu werden.
„Wenn du Angst hattest, wenn du Hunger hattest, du durftest nicht weinen. Ich weine bis heute nicht“, sagt Lydia, die im Versteck überlebt hat. „Sei leise, lach nicht, sprich nicht“, das Mantra von Avivas Mutter, die mit ihr untergetaucht überlebt hat. Sieben Jahre war Aviva bei der Befreiung, noch bis sie eine junge Frau war, flüsterte sie nur.
Dieser Hunger, dieser Hunger. Das Gefühl, nie mehr satt zu werden. Gibt es zu essen? Gibt es genug zu essen? Hast du genug gegessen, mein Kind? Hast du etwas zu essen dabei? Komm, ich geb‘ dir noch etwas mit. Die Unmengen von Essen, die zu Hause gehortet werden, die Unmengen von Essen, die jedes Mal auf den Tisch kommen. Das ständige: Iss, mein Kind, iss.
Wohin gehst du? Geh nicht! Wann kommst du wieder? Ruf an, wenn du da bist! Ruf an, wenn du kommst. Weck mich, wenn du kommst, damit ich weiß, dass du da bist. Nein, warte, ich bring dich. Ich hol dich ab. Ich bleib in der Nähe.
Man sagt, Überlebenden steckt das Lager sogar in den Genen, sie gaben es weiter an ihre Kinder. Nicht meschugge allein, sondern auch unsichtbar physisch deformiert. Die Kinder konnten sich nie abgrenzen von den Eltern. Wie sollten sie sich aus Umklammerung lösen, ersetzen sie doch für ihre Eltern eine ganze Welt? Sie waren nicht nur die Kinder ihrer Eltern, sie waren deren Eltern, deren Großeltern, Tanten, Onkel. Und manchmal waren sie das doppelte Kind, mussten die ihnen unbekannten ermordeten Geschwister ersetzen, die Kinder, die ihre Väter und Mütter vorher gehabt hatten. Sie wuchsen auf mit nächtlichen Schreien aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern, mit deren unverständlichen Gefühlsausbrüche in banalen Alltagssituationen. Ein Wort, ein Bild, ein Geruch konnte Erinnerungen, gleich einer Eruption durch die dünne Schutzschicht schleudern. Die Kapsel aufreißen lassen, in der das Überlebte eingeschlossen wurde, um Weiterleben zu können. Momente der Freude, des Glücks, nicht nur des Schmerzes, ließen immer wieder aufs Neue das Herz zerreißen.
Im Alter fallen die Schutzhüllen. Der Psychiater Kaminer hält diese Phase für die bedrohlichste im Leben der Überlebenden nach der Befreiung. Im Alter brechen die Dämme, „die das Überfluten von unaushaltbaren Erinnerungen und Gefühlen aus lang zurückliegenden Zeiten bisher verhindern konnten“. Die Menschen drohen in das „Universum der Einsamkeit“, ein Ausdruck von Elie Wiesel, zurückzustürzen. Alt zu sein an sich hieß auch schon, keine Überlebenschance zu bekommen. Isidor Kaminer und der Psychotherapeut Kurt Grünberg hielten einst einen Vortrag, „Älter werden nach dem Trauma“, in dem sie darüber referierten: Als erstes fehlt die Arbeit, die einen aufrecht hielt, dem Leben Struktur gab. Krank zu werden ist lebensgefährlich, Kranke wurden sofort selektiert. „Sag dem Arzt nicht, dass ich Schmerzen habe“, sagte eine Überlebende zu ihrer Tochter. Das Sterben von Freunden gleicht nicht dem Abschied wie bei anderen. Immer gesellen sich die dazu, von denen man sich nicht verabschieden konnte. Die Einsamkeit, wenn der Partner fehlt, der die Verbindung zur damaligen Zeit ist. Wenn einen niemand mehr beruhigt oder wenn derjenige stirbt, für den man überlebt hat. Oft haben stark und schwach geheiratet, wie bei Reich-Ranicki und seiner Frau Teofila. Der fünfte Punkt ist die Demenz. Die Hälfte der Bewohner eines Altenheims in Toronto, beispielsweise, so Kaminer, ist davon überzeugt, wieder im Lager zu sein. Schließlich das Sterben. Das Sterben, dass als Verrecken bekannt ist. „Ich habe Angst vor der Kälte. Vor der Kälte der Grube“, sagte eine Patientin zu Kaminer.
Psychotherapie allein kann nicht helfen. Es braucht ein ganzes Umfeld für diese Leute. Und Personal, von dem Unmögliches gefordert wird, nämlich zu verstehen, wovon niemand wirklich wissen kann, der kein Überlebender ist.
Die Kinder, in ständiger Alarmbereitschaft, Fürsorge aufgewachsen, sind oft ohne jede Möglichkeit, sich innerlich von ihren überlebenden Eltern abzugrenzen. Was für eine Rolle kann das eigene Empfinden schon spielen angesichts des unermesslichen Leidens, das die Eltern ertrugen, mit sich tragen? Die Kinder der Kinder, deren Familien, nun, ein wenig anders sind als die ihres nichtjüdischen Umfelds.
Da ist der Großvater, der dem Sozialdienst nicht öffnet. Er hat im Bunker versteckt überlebt. Jedes Signal von Draußen bedeutet Gefahr.
Da ist die Großmutter, die anfängt, die in ihrem Bett Brot zu horten, versteckt unter dem Kopfkissen. Es schimmelt schon, es darf nicht weggeworfen werden.
Da ist der Großvater, der der Enkelin Gute-Nacht-Geschichten aus Auschwitz erzählt.
Der Analytiker Klein ist davon überzeugt, dass es bei Überlebende ein „grenzenloses Verlangen nach guten Erfahrungen…auch gegenüber Nichtjuden gibt, deren Bild wiederherzustellen er sich ebenso sehr wünscht“. Zur Heilung des „in Scherben gegangenen Weltbilds“.
„Opfer tradieren Opfer. Täter tradieren Täter. Mitläufer geben dieses oft an ihre Kinder weiter“, sagt Grünberg. Die Opfer bräuchten nicht nur das soziale Gedächtnis der Gesellschaft, sie brauchten auch das Gedächtnis der Täter. Ihre Isolation wird verstärkt durch ein „Nicht-gewusst-haben“ und das Verschweigen der Täter. „Das Schweigen der Opfer und das Verschweigen der Täter stehen sich tatsächlich gegenüber“, so Grünberg.
Die Frage, warum heute noch nunmehr greise Täter sich in einem Strafprozess für ihre Taten, Ihrem Morden, ihrer Beihilfe zum Massenmord, stellen sollen, ist aus Sicht der Opfer, ihrer Kinder und Kindeskinder unerträglich. Es ist unbarmherzig. Zu sehen, wie heute noch Verfahren bewusst verzögert werden, Überlebenden die Nebenklage verweigert wird, wie vor einiger Zeit beim Landgericht Neubrandenburg geschehen, lässt Opfer Opfer bleiben und Täter Täter. Und ihre Kinder. Und ihre Kindeskinder. Es isoliert. Die Überlebenden stürzen in ihr „Universum der Einsamkeit“. Welche Rechtfertigung kann es geben, dass die Täter an ihre Taten nicht erinnert werden?

Der Text wurde am 11. November 2019 auf dem Blog SALONKOLUMNISTEN veröffentlicht.